Leere Seite, voller Kopf
- Barbara Pachl-Eberhart
Eigentlich hätte ich gerade Zeit. Ich habe sie mir sogar genommen, sie gehört mir. Mir und meinem heiß geliebten Tagebuch. Da sitze ich jetzt, das Buch ist offen, der Lieblingsstift möchte losschreiben. Aber irgendwie will es der leeren Seite heute nicht gelingen, nach Freiheit zu duften, nach Erlaubnis oder nach Platz für das, was kommen will.
Heute ist mir die leere Seite einfach zu leer. Und ich kann mich nicht überwinden, einen ersten Satz zu schreiben.
An solchen Tagen erinnere ich mich schmerzlich an früher. An Schularbeiten, Klausuren, an leere Blätter, die mich zum Schwitzen brachten. An das Gefühl, dass ich etwas richtig machen sollte. Und an die Panik, die mich erfüllte, weil ich – gerade in Deutsch, vor allem bei der Lehrerin, die mich jahrelang quälte – einfach nie wusste, was „richtig“ eigentlich war.
Zwar weiß ich genau, dass mich heute niemand mehr beurteilt. Ich weiß, dass ich selbst entscheide, was richtig und gut für mich ist. Vor allem beim Schreiben. Gerade da. Und doch gibt es diese Tage, an denen mich etwas hemmt. Die Sorge, dass der Stift schmieren könnte. Die Angst, dass mir der Tonfall, den ich anschlage, schon morgen peinlich sein könnte. Manchmal ist mir sogar meine eigene Handschrift zu hässlich, zu unregelmäßig, zu kindlich, zu blöd. Und ich schaffe es nicht, diese Gedanken beiseite zu schieben.
„Was soll ich schreiben?“, denke ich dann. Und kann nicht sagen, ob meine Selbstzweifel sich zwischen mich und mein Schreibthema drängeln – oder ob es umgekehrt ist: dass es eben kein aktuelles Thema gibt, über das ich schreiben muss. Und dass ich mir deshalb so seltsame Dinge ausdenke wie die Angst vor dem leeren Blatt. Ich weiß es oft wirklich nicht. Aber ich weiß etwas anderes. Etwas, das immer hilft. Es hilft, wenn ich nicht in die Gänge komme. Es hilft, wenn mir eine Schreibaufgabe zu groß, zu schwierig erscheint. Es hilft, wenn ich zu wenig Zeit habe. Es hilft auch, wenn die Zeit zu lang ist und keine Struktur finden will. Es hilft einfach immer.
DAS PRINZIP, DAS ICH DIR HIER ANS HERZ LEGEN WILL, HEISST: DEM SCHREIBEN EINEN RAHMEN GEBEN
Ich verwende es in Schreibkursen, als Gruppenübung, wenn wir Lieblingswörter sammeln. Und auch als erste Übung im Tagebuchkurs „Ich.Heute.Hier“. Bei der Tagebuchübung zeichnen wir Rahmen, die aussehen wie Sofortbild-Fotos. Und wir schreiben in jeden Rahmen einen Eindruck des vergangenen Tages hinein. Das geht, hokuspokus, viel einfacher, als links oben zu beginnen und eine Seite voll zu schreiben.
Ab diesem Moment, wo man die Kästchen gezeichnet hat, ist alles anders. Es ist schon etwas da, es ist schon was geschehen. Du hast schon eine Arbeit erledigt. Etwas in deinem Kopf sagt schon mal: „Bravo! Die erste Aufgabe ist erledigt, na, dann kann ja die zweite schon einmal nicht mehr so schwierig sein.“
Zweitens: Dieses Papier ist nicht mehr so jungfräulich, nicht mehr anonym. Es ist schon etwas da in deiner „Handschrift“, das heißt: Das Papier ist irgendwie sympathisch geworden. Es ist ein wenig schöner als vorher. Es ist persönlich, es gehört dir, du hast dir dieses Stück Papier zu eigen gemacht. Und in dieses gemachte Nest setzt du nun deine Worte.
Hier die Übung, die ich in meinen Seminaren mache, oft gleich in der Früh am zweiten Tag: Da lege ich zwei Flipchartbögen auf den Boden, einen umrahme ich außen mit einer roten oder blauen Linie, und einen zweiten lege ich ohne Rahmen hin. Dann frage ich meine Teilnehmer*innen: Auf welches Papier möchtet ihr jetzt lieber schreiben? Meistens sind sich alle einig, dass man dorthin, wo schon etwas Persönliches drauf ist, viel lieber schreibt.
WIE KANNST DU DAS NUTZEN?
Du kannst dich auf jeden Fall immer fragen: Was kann ich denn machen, bevor ich zu schreiben beginne? Kann ich mir dieses Papier – oder auch mein Dokument am Computer – zu eigen machen? In irgendeiner Form? Kann ich einen Rahmen zeichnen? Es müssen ja keine Fotorahmen sein, du kannst ja auch die ganze Seite umrahmen.
Oder: Kann ich Kleckse machen aufs Papier, Punkte, mir ein Blümchen zeichnen? Kann ich mir vielleicht auch ein Format zurechtbiegen? Vielleicht hast du einmal ein großes A4-Papier vor dir liegen, und es ist dir einfach zu groß, darauf zu schreiben, dann könntest du dir durch einen Rahmen einfach ein kleineres Format gestalten.
Ich mache das auch, wenn ich Vorbereitungen für Seminare schreibe. Dann zeichne ich mir Rahmen, wenn ich zum Beispiel frage: Welche Themen will ich in diesem Seminar bearbeiten oder welche Grundlektionen möchte ich machen? Dann werde ich mir nicht eine ganze A4-Seite vornehmen, weil das ist ja viel zu viel für ein Seminar, also zeichne ich mir einen kleineren Rahmen und schreibe drei Punkte hinein oder fünf.
Ich habe auch allerlei Dateien auf meinem Computer, in die ich mir Rahmen gezeichnet habe, ich habe da mit „Elemente einfügen“ und verschiedenen Strichstärken gespielt, ich habe auch mit „Tabelle einfügen“ gearbeitet (eine Spalte, eine Zeile), da kann man sich die Strich-Art für den Rahmen aussuchen, und schon kann man sich das so groß ziehen, wie man will, man kann sich das ausdrucken und hat vorgefertigte Papierformate mit Rahmen.
WAS DU AUCH MACHEN KANNST, IST, DIR DEIN TAGEBUCH VORZUBEREITEN.
Vielleicht ist dein Tagebuch noch unberührt. Oder Du hast Dir kürzlich ein neues gekauft, das noch auf seinen Einsatz wartet. Es gibt Tagebücher, die so schön und jungfräulich, dass Du Dich scheust, hineinzuschreiben.
Ein Trick: Gestalte Dir die erste Seite, indem Du Dir zum Beispiel einen Segen schreibst für die Tagebuchzeit oder ein liebes Briefchen an dich selbst. Oder indem du dir ein Bild hineinklebst, das dir gut gefällt. Das kannst du übrigens nicht nur auf der ersten Seite machen, sondern auch auf anderen Stellen im Tagebuch. Klebe Dir Bilder ein, die Du aus Zeitschriften schneidest, oder durchblättere einmal eine Zeitschrift nach Worten, die Dir gefallen, die kannst du ausschneiden und da und dort in dein Tagebuch kleben. Und schon ist etwas da, schon gehört es dir, schon ist es nicht mehr aus dem Nichts geschrieben.
DAS IST AUFBAUEND, EINE ART HUMUS. FRUCHTBARE ERDE FÜR DEINE GEDANKEN UND GEFÜHLE.
So viel für heute. Ich freue mich, wenn Du Deine eigenen Erfahrungen sammelst und auch hier mit uns teilst. Erfahrungen mit Rahmen: mit der Größe der Rahmen – und nicht nur der „Größe“, vielleicht auch mit Kleinheit: Wie klein kann ein Rahmen sein?
Denke auch daran, dass es nicht nur gezeichnete Rahmen gibt. Auch die Zeit kann gerahmt werden. Fünf Minuten schreiben. Zehn Minuten schreiben. Dreißig Minuten oder sechzig … welcher Zeitrahmen fühlt sich gut an für Dich? Und wie rahmen Orte Dein Schreiben ein? Brauchst Du Ordnung auf Deinem Schreibtisch oder nur ein kleines Fleckchen, um den Laptop abzustellen? Brauchst Du Kaffeehausatmosphäre? Eine versperrte Tür? Ein menschenleeres Haus?
Auch Lebensagenden schaffen einen Rahmen. Manche Menschen können nur schreiben, nachdem sie aufgeräumt, alle Mails beantwortet und das Essen gekocht haben. Andere schreiben am besten im Bett, ehe sie irgendetwas anderes tun. Eine Schreibpädagogin, von der ich gelernt habe, holt sich ein Glas Wasser, putzt sich die Zähne und schreibt dann im Bett, bevor ihr Wecker um neun Uhr läutet und ihr sagt, dass sie sich anziehen mit den Hunden gehen muss.
RAHMEN HELFEN UNS, UNSEREN SCHREIB-RAUM ZU GESTALTEN. RAHMEN GEBEN UNS SICHERHEIT.
Zugleich ist es wertvoll, mit Rahmen zu spielen. Anderer Rahmen, anderes Erlebnis. Nicht immer nur schlecht. Wer meint, nur morgens schreiben zu können, so lange alle schlafen, und vor noch Yoga zu brauchen, der könnte einmal nachmittags ins Kaffeehaus gehen und zehn Minuten lang kritzeln. Wer nur im Park schreiben kann, könnte es einmal im Büro probieren, nach Dienstschluss. Oder auf dem Klo. Rahmen zu sprengen ist ebenso wertvoll, wie den Dingen Rahmen zu geben.
Und ich weiß jetzt, was ich heute schreiben will. Ich beginne mit den Worten: „Der Spaß, der jenseits meiner Grenze liegt.“ Und bevor ich schreibe, male ich Blümchen aufs Papier. In allen möglichen Farben. Und wenn ich fertig bin, rahme ich meinen Text mit Goldfarbe ein. Vielleicht kopiere ich ihn. Und hänge ihn mir übers Bett.
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